1988

Kind: “Darf ich nach der Schule mal einen anderen Weg nach Hause probieren?”

Mutter: “Nein, das ist zu riskant. Du machst das so wie immer und gehst den Weg, den wir dir beigebracht haben.”

2018

Arbeitnehmer: “Darf ich für diese Aufgabe mal einen anderen Prozess ausprobieren?”

Arbeitgeber: “Nein, das ist zu riskant. Sie machen das so wie immer und nehmen den Prozess, den wir Ihnen beigebracht haben.”

Einfach mal machen…

Es gibt sehr wenige Momente in meinem Leben, bei denen ich zu einem Vorschlag Ja gesagt und das im Nachhinein von tiefstem Herzen bereut habe.

Vor ein paar Jahren bin ich im Sommer mal mit an den See gefahren, obwohl ich keine Lust hatte. Es war heiß, es war voll, es war Stau, es war sehr wenig schön. Darauf hätte ich verzichten können.

Aber dem gegenüber stehen unzählige Erlebnisse, bei denen es umgekehrt war. Ich hatte eigentlich Bedenken oder Angst oder schlichtweg keine Lust. Und dann habe ich es trotzdem gemacht. Und dann war da eine neue Erinnerung. Ein weiteres Puzzleteil in meinem Leben, das ich sonst nicht gehabt hätte.

  • Meine Familie wollte unbedingt eine Wohnmobilreise machen. Ich habe Ja gesagt, obwohl ich dem Campen bis dahin überhaupt nichts abgewinnen konnte. Das Ergebnis war einer der besten Urlaube, den wir je hatten (hier der Beweis).
  • Mir wurde empfohlen, in Kryptowährung zu investieren. Ich habe Ja gesagt, obwohl ich das alles bis dahin für einen riesigen Hype hielt, mit dem man sich nicht ernsthaft beschäftigen sollte. Ich bin dadurch nicht reicher geworden, aber ich habe nun ein sehr viel besseres Verständnis von Kryptowährungen und den zugrunde liegenden Technologien (hier der Beweis).
  • Ein paar alte Freunde haben gefragt, ob ich kurzfristig bei einer Streetball Night mitmachen wollte. Ich habe Ja gesagt, obwohl meine letzte Teilnahme bei so einer Veranstaltung im letzten Jahrtausend gewesen ist und ich meinen wohlverdienten Freitag Abend viel lieber auf der Couch verbracht hätte. Meine Performance war unterragend, aber der Abend an sich war grandios.
  • Auf Twitter gab es die Idee, regelmäßig positive und inspirierende Geschichten zu teilen. Ich habe Ja gesagt, obwohl meine Zeit schon fest für andere Ideen verplant war. Daraus ist #MutLand entstanden.

Alle diese Erlebnisse haben mich bereichert. Sie waren nicht uneingeschränkt positiv. Aber es waren Erfahrungen. Experimente, aus denen ich etwas lernen konnte. Erinnerungen, die sich vom Alltag abheben. Und jede dieser Erinnerung führt dazu, dass ich Neuem gegenüber offener werde und mit Unsicherheit besser umgehen kann.

Jede Entscheidung, die man gegen etwas trifft, trifft man gleichzeitig auch gegen die damit verbundene neue Erfahrung, die man machen könnte. Wer sich wirklich weiterentwickeln möchte, muss anfangen Ja zu sagen. Insbesondere wenn es sich um Vorschläge handelt, bei denen das Ergebnis unsicher ist.

Neugier ist für alle Lebensbereiche relevant

Experimentierfreude hilft nicht nur im Privatleben. Heute mehr denn je brauchen wir diese Eigenschaft in der Bildung, in der Erziehung und im Arbeitsleben. Roboter machen keine Experimente. Dafür braucht es neugierige, kreative Menschen.

Wenn es um New Work geht, um das Agile Manifest oder um moderne Organisationsstrukturen. Dann geht es immer auch darum, den Mut zu haben, Ja zu etwas Neuem zu sagen. Bestehendes in Frage zu stellen und Raum für Exploration zu schaffen. Jeder zweite New Work Artikel bezieht ganz klar Stellung. Gegen die Bewahrer. Für die Revolution, den Fortschritt und die Organisationsrebellen.

Risiko? Das ist was für die anderen!

Experimentierfreude lässt sich übrigens immer hervorragend von anderen einfordern. Aber wann man selber etwas Neues ausprobieren soll, lässt die Begeisterung schnell nach.

Ganz im Ernst: Wie progressiv seid ihr denn wirklich? Kennt ihr diesen Film mit Jim Carey? Der Ja-Sager? Ich tue mir schwer damit, genau diesen Film mit genau diesem Hauptdarsteller als philosophisches Meisterwerk zu verkaufen. Aber die Message macht Sinn. Man muss die eigene Komfortzone verlassen. Den Schweinehund überwinden. Einfach mal mehr experimentieren.

Wie reagiert ihr, wenn jemand euch vorschlägt, jetzt mal eine neue Methodik auszuprobieren, eine andere Software zu nutzen oder das Kollegenteam zu wechseln? Ist euer erster Impuls: Ja, super! Das sollten wir testen, komme was wolle. Oder geht ihr auch erstmal in den Analysemodus und kratzt im Kopf schonmal die zahlreichen Gegen-Argumente zusammen? Zu teuer? Zu riskant? Was da alles schiefgehen kann?

Ich versuche seit einiger Zeit, bewusst nicht auf meinen ersten Impuls zu hören und lieber die Chancen in den Vordergrund zu stellen als die Risiken. Und es fällt mir keineswegs leicht. Aber es wird leichter. Aus dem einfachen Grund, dass ich sehr selten wirklich enttäuscht wurde.

Wird Euer Kind ein Nein-Sager?

Wenn es uns heute schwer fällt, den inneren Schweinehund zu überwinden, dann liegt das möglicherweise daran, dass wir seit frühester Kindheit gelernt haben, Experimente nur nach Freigabe und unter Anleitung von Autoritätspersonen durchzuführen.

Ich merke es selber, wenn meine Kinder mit der neuesten Schnappsidee um die Ecke kommen. Wer hatte bitte den grandiosen Einfall, Schleim aus Rasierschaum und Kleber herzustellen? Warum sollten man die Höhle ausgerechnet im Wohnzimmer bauen? Und welchen Sinn macht es, sich 24 Stunden in eine leere Badewanne zu legen? Mein erster Impuls bei solchen Vorschlägen ist Nein. Nein, das Wohnzimmer ist kein Kindergarten! Nein, mit Essen spielt man nicht!! Nein, ihr müsst jetzt ins Bett!!!

Aber welche Message bleibt dabei hängen? Nein, hier wird nichts ausprobiert. Es gibt jemanden, der weiß, was gut für euch ist. Ihr macht bitte nur vernünftige, vorhersehbare und sinnvolle Dinge. Damit habe ich dann meinen Erziehungsauftrag erfüllt und dazu beigetragen, dass meine Kinder in Zukunft möglichst wenig Experimentierfreude und Eigeninitiative entwickeln. Und sich von Robotern nur noch dadurch unterscheiden, dass sie Ruhephasen, Essen und Gehaltserhöhungen brauchen.

Embrace Uncertainty

Wenn ihr wollt, dass die Welt von morgen kreativer, mutiger und unternehmerischer wird, dann müsst ihr eure eigenen Experimente und vor allem auch die der Kinder so gut wie möglich unterstützen.

Ich habe mir das fest vorgenommen. Ich möchte selber Ja sagen, wenn es darum geht, neue Ideen auszuprobieren. Egal ob ich voll davon überzeugt bin oder nicht. Und ich möchte auch zu meinen Kindern viel öfter Ja sagen, wenn sie mit Ideen ankommen, für die es keine triftigen Gegenargumente gibt. Natürlich lasse ich sie nicht am Cuba Libre nippen oder Stephen King Filme schauen oder die Schule schwänzen.

Aber neulich wollte meine neunjährige Tochter im Garten übernachten. Ich hatte schon wieder zahlreiche Argumente auf den Lippen, die dagegen sprachen, Zu kalt. Zu gefährlich. Da kann ich nicht ruhig schlafen. Aber objektiv betrachtet, war das Risiko überschaubar. Der Garten ist abgeschlossen und direkt vor meinem Fenster. Gegen die Kälte gibt es genügend Decken. Und dass ich selber unruhig schlafen würde, ist mein Problem und nicht das meiner Tochter.

Also habe ich den Schlafmangel in Kauf genommen, weil ich hoffte, dass diese Erfahrung meiner Tochter zeigt, dass sie solche Dingen ausprobieren kann. Weil es sie vielleicht dazu anregt, sich neue Ideen zu überlegen, die sie gerne testen möchte. Weil sie hoffentlich dadurch offener wird für das Ungewisse. Und später eine Zukunft mitgestaltet, die von Neugier geprägt ist und nicht von Angst.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich bei LinkedIn. Der Vollständigkeit halber ist er jetzt auch hier.

Für die Zukunft brauchen wir mehr Ja-Sager

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