Eine kleine sportliche Geschichte
Die meisten Kinder in der ehemaligen DDR waren schon sehr früh in Sportvereinen organisiert. Die Sichtung und Talentsuche von hochbegabten Sportskanonen war für den Arbeiter- und Bauern-Staat ein wichtiges Anliegen. In den Medien wurde nach gewonnenen internationalen Wettkämpfen verkündet, man habe den bösen Kapitalismus zumindest auf diesem Gebiet bezwungen. Niedlich, oder? Schon im Vorschulalter war ich in einem Leichtathletikverein. Jährlich gab es Kreisspartakiaden. Hier konnten sich die besten Sportler der Schulen mit Gleichaltrigen messen. Ich war in keiner Sportart besonders gut, aber hatte in jeder Disziplin ein Bewegungsgefühl und ein technisches Verständnis. Deswegen wurde ich später Zehnkämpfer.
Als ich jedoch mit zehn Jahren, damals in der 4. Klasse war, gelang mir doch etwas Besonderes. Bei einer dieser Kreisspartakiaden übersprang ich fast meine Körperhöhe in der Disziplin Hochsprung ( 1,18 m). Das war im Jahr 1975. Exakt 30 Jahre später kam einer meiner Schüler aus der 5. Klasse zu mir und gab mir einen kleinen Artikel aus der Zeitung. Mit einem verschmitzten Lächeln meinte er: „Das sind sie Herr Ilg, oder?“ Inhalt des Artikels war, dass mein 30 Jahre alter Kreisrekord von 1,18 m um einen Zentimeter überboten wurde. Aber die Pointe kommt jetzt:
Wie Computer es schaffen unsere Vorstellungen zu manipulieren
Im selben Augenblick sagt dieser Knirps zu mir: „Ich bin genauso gut. Ich habe gestern Abend die UEFA Champions League mit dem FC Hansa Rostock gewonnen.“ Zuerst dachte ich, der verarscht dich jetzt. Dann wurde mir klar, er meinte es bitter ernst. Für ihn war das tägliche rumkloppen auf den Tasten seines Computers genauso wichtig, wie mein Streben im wirklichen Leben mit Anstrengung und Schweiß höher, schneller und weiter zu kommen. Ich bewegte dabei meinen ganzen Körper, er nur seine Hände und seine Gedanken um ein Computerspiel. Er war darauf aber wirklich stolz. Im Nachhinein hätte ich fragen sollen, was er aus seinem Sieg gelernt hat? Für mich persönlich besteht der Sinn von sportlicher Betätigung darin, Freude an der Bewegung zu empfinden, etwas für die Gesundheit zu tun, beweglich zu bleiben und sich gut zu fühlen. Mein ganzes Leben habe ich ein unbändiges Interesse an diesen Dingen behalten und versuche es an Schüler weiterzugeben. Was er sagen würde, werde ich leider nicht erfahren. Ich habe leider nicht gefragt. Nur eines weiß ich, seine Motivation ist eine völlig andere als meine.
Was Facebook und Co. uns lehren sollten
Die Digitalisierung ist bei unseren Kindern durch Computerspiele, Facebook, Google, Apple etc. schon viel mehr angekommen, als bei vielen von uns Lehrern und Erwachsenen. Warum ist das so? Kinder sind damit aufgewachsen und zumeist unkritische Konsumenten. Wichtiger ist aber, dass diese Unternehmen es schaffen, ihnen eine Märchenwelt zu suggerieren und Kinder lieben Märchen.
- Facebook, indem es sagt: „Du bist nicht allein. Du hast hunderte von Freunden. Teile ihnen mit was du denkst und tust.“
- Google, indem es sagt: „Ich habe das Wissen dieser Welt. Die Antwort auf deine Fragen ist nur einen Tastendruck entfernt. Brauchst du eigentlich die Schule noch?“
- Apple, indem es sagt: „Ich gebe dir die Plattform. Mit IPhone und IPad kannst du Google und Facebook nutzen, Überall und zu jeder Zeit.“
Was Kinder noch nicht begreifen können ist, dass es hierbei um die Vorbereitung und Durchsetzung von Firmeninteressen- und Visionen geht und um viel, viel Geld. Hier sollte die Schule ins Spiel kommen. Versteht mich nicht falsch:
Ich bin ein großer Fan von Google und Apple. Weil gerade diese Produkte unglaubliche Chancen bieten. Wir nutzen aber diese großartigen Möglichkeiten nicht genug um Kinder effektiver lernen zu lassen.
An meiner früheren Schule wurden Handys sogar grundsätzlich verboten. Wir müssen es schaffen den Visionen dieser Unternehmen unsere eigenen entgegen zu setzen. Unser Unterricht muss von diesen unseren eigenen Visionen getragen sein, nicht im Fach Sozialkunde, Politik oder Ethik, sondern fachübergreifend in jedem Unterricht und überall in der Schule. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Bildung und dem was in der Schule passieren soll, muss an erster Stelle stehen. Wir tun in unseren Bildungseinrichtungen so viele unsinnige Dinge. Ich als Lehrer beschäftige mich seit langem mit diesen Fragen und könnte mittlerweile ein Buch zu diesem Thema schreiben. Der Titel könnte lauten: „Schildbürgerstreiche an deutschen Schulen des 21. Jahrhunderts“. Es wird sich bei der Schulentwicklung viel zu sehr auf die Hardware konzentriert. Schnelle und stabile Internetverbindungen, Tabletts, Digiboards, Beamer, Laptops etc. Das kann man ja alles machen, aber viel wichtiger ist doch die Software. Wie kann ich alle diese Dinge nutzen, um Kindern Lust am Lernen zu bescheren?
Hamsterradläufer sind out wir brauchen mehr smart, quick und flexibel
Leider liegt das Augenmerk der heutigen Schulbildung sehr oft auf industriell verwertbaren Strukturen. Kinder werden in den allermeisten Bildungseinrichtungen konditioniert etwas zu lernen, …
- um gute Zensuren zu bekommen
- um die Anerkennung der Lehrer zu bekommen
- um gute Ausbildungsplätze zu bekommen
- um einen gute Beruf zu bekommen
- um später viel Geld zu bekommen
- um damit eine Menge Dinge zu kaufen
Die Frage, worauf es im Leben ankommt, wird in diesem Blog regelmäßig thematisiert. Und ich persönlich halte diese Form von Motivationssystem für grundlegend falsch. Aus sich herauswachsen, einen Kopf größer werden, auf sich stolz sein, weil es mir gelungen ist durch einen langen, steinigen Prozess etwas bewältigt zu haben. Dass formt den Charakter und unsere Sinne. Dadurch erleben Kinder Selbstvertrauen, Selbstständigkeit und verinnerlichen das Gelernte. Oftmals erinnern wir uns das ganze Leben daran zurück. So wie ich an die 1,18. und der Knirps an den Champions League Sieg mit Hansa Rostock.
Mit auswendig gelerntem Faktenwissen machen wir aus unserem Gehirn einen Spam Ordner, der von uns nach 24 h sofort wieder gelöscht wird. Tafelbild abschreiben und dann auswendig lernen. Das ist für das Können sehr ineffektiv. Wir sollten anfangen unseren Kindern zu zeigen, wozu sie ihr Gehirn haben, nämlich zum Denken, Fühlen, Entdecken und Erleben.
Warum planen wir Erwachsenen die Schulen für die Kinder?
Steh mal auf! Es gehört sich nicht auf dem Boden zu sitzen. Wie sieht das denn aus? Du kannst doch in die „Chill- Area“ gehen, die haben wir doch extra für euch eingerichtet. Wie jetzt, ihr wollt lieber auf Sitzbällen sitzen? Ihr habt doch da eure schönen und stabilen Stühle. Dort könnt ihr viel besser arbeiten und gerade sitzen. Euer Klassenzimmer soll grün sein? Das ist viel zu dunkel. Achso, ihr meint Pflanzen. Ja aber darum müsst ihr euch auch kümmern und das macht ihr ja nicht. Runde Bänke auf dem Schulhof? Wir haben doch gerade vor 2 Jahren eckige hingestellt, die sind doch gut.
Merkt ihr etwas? Wir planen Kindern die Schulumgebungen, obwohl es aber um die Kinder geht. Es nützt doch nichts, wenn wir Kindern ein „Psychotop“ einrichten, weil wir meinen, das ist gut für Kinder. Es geht doch hier nicht um uns. Die um die es geht, sollten mitgestalten. Das Spektrum dieser Mitbestimmung sollte von der Raumeinrichtung über die Konzeption von Kursen oder Themen bis zur Ausgestaltung von einzelnen Lernangeboten, Aufgabenstellungen und Prüfungen gehen. Das Beurteilen und Abwägen von Qualitäten einer Lösung wird so zum Lernprozess. Nur diese sollte nicht erwachsenenzentriert sein. Vielleicht sollte Naturwissenschaft auch in der Natur unterrichtet werden? Alles was Kinder ermutigt gern zu lernen, sollte erlaubt werden und gewollt sein.
Superlehrer, Quereinsteiger oder Seiteneinsteiger?
Nur dafür bedarf es in der Gesellschaft angesehener Lehrer. Sie müssten überragend ausgebildet sein und hoch qualifiziert. Die wichtigste Kompetenz allerdings ist, dass sie als Schauspieler talentiert sind. Richtige Rampensäue wären die besten Lehrer, weil Kinder gerne lachen und Geschichten mögen. Das bedeutet nicht, dass der Lehrer den Klassenkasper ersetzen soll. Aber er muß es schaffen eine Umgebung erwachsen zu lassen, in der keinen Druck, keine Angst und viel, viel Vertrauen herrscht. In einer solchen Atmosphäre würden sie gern und nachhaltig lernen. Allerdings sollten diese Pädagogen grundlegende Kenntnisse aus der neuesten Forschung von Soziologie, Psychologie, Persönlichkeitsdiagnostik und Hirnforschung haben. Sie müssten in der Lage sein wie Spürhunde die Talente und besonderen Fähigkeiten von Kindern aufzuspüren um sie einzuladen dieses „Besondere“ weiter zu potenzieren ohne Aussicht auf Bestrafung oder Belonung. Potentiale entwickeln sich am bestem im harmonischen Miteinander und am schlechtesten in der eisigen Isolation eines Einzelkämpfers in einer Kampfsituation. Weniger Ellenbogen und mehr zusammen lernen. Bildung statt Ausbildung. Wir wollen Kinder, welche sich im Zeitalter der Digitalisierung gut zurechtfinden? Dann brauchen wir „Superlehrer“. Nicht falsch verstehen. Es gibt unzählige tolle Lehrer. Es nützt nur nichts, wenn unser System von preußischen Bürokraten durch Erlasse, Verordnungen und Dienstanweisungen diese Hoffnungsträger verschleißt. Das Einstellen von Seiteneinsteigern ohne eine relevante Expertise als Lehrer halte ich für den größten Schildbürgerstreich und zeigt den aktuellen Stellenwert des Lehrers in unserem Land. Wegen Lehrermangels und angeblich leerer Landeskassen werden Krankenwagenfahrer, Verkäufer oder Versicherungsvertreter die ein Abi haben, mit einer Schnellbesohlung versehen und als Lehrkräfte an unseren Schulen eingestellt. Vielleicht gibt es ja neben Sankt Martin auch noch andere Hoffnungsträger unter ihnen. Aber das dadurch unser Bildungssystem moderner und den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerechter wird, wage ich zu bezweifeln. Das Land Sachsen Anhalt lehnt den Seiteneinstieg für ein Lehramt im übrigen ab. Anders verhält es sich mit Quereinsteigern. Sie haben oftmals ein hohes fachliches Knowhow und bringen wertvolle praktische Erfahrung mit. Leider kommen zu wenige in die Schulen, da sie dort weniger verdienen und schlechtere Bedingungen vorfinden, als in der Wirtschaft. Sollten wir das und vieles mehr in Zukunft nicht besser und sinnvoller gestalten als bisher?
Was ist Deine Meinung dazu? Wie und vor allem von wem sollten unsere Kinder gebildet und auf das Leben vorbereitet werden? Ich freue mich über Anregungen, Kommentare und gerne auch alternative Ansätze.
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Pingback: „Wie halte ich es mit der Bildungsindustrie?“ oder „Wie ich den Einfluss von Microsoft, Apple, Google & Co auf meinen Unterricht begrenze.“ | Bildungspunks
Hallo liebe Bildungspunks
Ich denke in diesem Thema geht es darum, dass wir momentan am Silicon Valley nicht vorbeikommen. Nur wir müssten es schaffen deren Visionen durch eigene zu ersetzen. Eigentlich sind alle diese Innovationen mächtige Werkzeuge, nur sie werden momentan viel zu oft als reine „Aufmerksamkeitsräuber“ genutzt, gerade von Kindern. Dem müssen wir etwas entgegensetzen.
Liebe Grüße
Andreas Broby Ilg